„Kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus ...“
Am 13. April 1945 befreite die Rote Armee Wien von der nationalsozialistischen Herrschaft.
Zwei Wochen später begründeten Vertreter der KPÖ, der ÖVP und der SPÖ mit der Unabhängigkeitserklärung (“Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs“) die Zweite Republik.
Sie erklärten den „Anschluss“ an das Deutsche Reich für „null und nichtig“.
Österreich wurde als demokratische Republik wiederhergestellt, die „im Geiste der Verfassung von 1920“ einzurichten sei.
Tatsächlich trat Hans Kelsens Verfassungsordnung neuerlich in Kraft.
Von deren weltanschaulicher Neutralität gingen die Väter der Republik in einem wesentlichen Punkt allerdings ab:
Nicht nur die NSDAP und ihre Organisationen sowie deren Neubildung wurden unter Androhung hoher Strafen verboten, sondern überhaupt jegliche Betätigung im nationalsozialistischen Sinn („Wiederbetätigung“).
Ein eigenes „Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP“ (Verbotsgesetz) vom 8. Mai 1945 traf diesbezüglich eine umfassende Regelung. 1947 wurde es novelliert.
Schon die Unabhängigkeitserklärung bringt die gemachten historischen Erfahrungen zum Ausdruck, indem sie auf die Schuld der Nationalsozialisten an der Auslöschung Österreichs und am Weltkrieg verweist.
Es sind nur die „antifaschistischen Parteien“, die die Zweite Republik begründen und deren erste Regierung bilden.
(Nebenbei erwähnt sei, dass die Unabhängigkeitserklärung auch am Beginn der erst Jahrzehnte später hinterfragten These von der Opferrolle Österreichs steht.)
Unter der Oberhoheit der alliierten Besatzungsmächte wurde das Verbotsgesetz von eigens dafür geschaffenen Volksgerichten zuerst konsequent angewendet.
Schon ab 1948/49 – mit Beginn des Kalten Krieges, der Zulassung minder belasteter „Ehemaliger“ zur Nationalratswahl und der Parteigründung des FPÖ-Vorläufers „Verband der Unabhängigen“ (VdU) – nahm diese Konsequenz jedoch ab.
Am 15. Mai 1955 kam es zwischen den vier Alliierten und Österreich zum Abschluss des „Staatsvertrages von Wien“.
Dieser verbietet in Artikel 4 den neuerlichen „Anschluss“ an Deutschland.
In Artikel 7 wird die Auflösung von Organisationen gefordert, die den slowenischen und kroatischen Minderheiten feindlich gegenüberstehen.
Und in Artikel 9 verpflichtet sich Österreich, alle „Organisationen faschistischen Charakters“ aufzulösen sowie aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben „alle Spuren des Nazismus“ zu entfernen.
Trotz dieser klaren, nun auch völkerrechtlichen Festschreibung des „antifaschistischen Gehalts“ der österreichischen Verfassung (Manfried Welan u.a.) kam es nach dem Abzug der Alliierten längere Zeit hindurch kaum mehr zu Verurteilungen nach dem Verbotsgesetz.
Die „spezialisierten“ Volksgerichte wurden abgeschafft und die nun zuständigen Geschworenengerichte fällten in Verfahren gegen alte und vermehrt auch neue Nationalsozialisten Freisprüche, die sich weder aus der Sach- noch aus der Rechtslage begründen ließen.
Die Erklärung, die Geschworenen wären durch die hohen Strafdrohungen abgeschreckt worden, mag vereinzelt zutreffen, übersieht aber, dass die Stimmung in der Bevölkerung für die Täter und Wiederbetätiger günstig war.
Nicht nur in vielen öffentlichen Ämtern, sondern auch auf vielen Geschworenenbänken saßen alte Nationalsozialisten.
Fast drei Jahrzehnte blieb diese Situation unverändert, auch wenn 1960 durch den Beschluss des Abzeichengesetzes und 1974/75 durch die Aufnahme des Verhetzungsparagraphen in das neue Strafgesetzbuch das antifaschistische Rechtsinstrumentarium ergänzt bzw. modifiziert wurde.
Der Umschwung begann in den 1980er Jahren.
Zuerst bescheinigte das Landesgericht für Strafsachen Wien (allerdings in einem Verfahren wegen Übler Nachrede) der „Bundesturnzeitung“ des „Österreichischen Turnerbundes“ (ÖTB) eine „nationalsozialistische Schreibweise“.
Dann setzte sich der Verfassungsgerichtshof mit den Umtrieben der „Nationaldemokratischen Partei“ (NDP) und der „Aktion Neue Rechte“ (ANR) auseinander.
Er entschied nicht nur, dass die antifaschistischen Bestimmungen des Staatsvertrages „self-executive“ (also unmittelbar und damit auch ohne Durchführungsgesetze anzuwenden) seien, sondern traf vor allem folgende Feststellung:
„Die kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus ist ein grundlegendes Merkmal der wiedererstandenen Republik. Ausnahmslos jede Staatstätigkeit hat sich daran zu orientieren.“ (ANR-Erkenntnis 1985)
Die langsame Änderung des Meinungsklimas und die international beachteten Aktivitäten der „Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition“ (VAPO) führten letztlich zur Novelle des Verbotsgesetzes im Jahr 1992:
Einerseits wurden die Strafuntergrenzen bei Beibehaltung der Obergrenzen deutlich herabgesetzt, andererseits wurde der Tatbestand des § 3h eingefügt, der eine wirksamere Verfolgung der Leugnung, Gutheißung, gröblichen Verharmlosung oder Rechtfertigung von NS-Gewaltverbrechen ermöglicht.
Das „Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen“ (EGVG) gibt es seit 1986.
Es enthält eine Bestimmung, die die Verbreitung von NS-Gedankengut ohne Wiederbetätigungsvorsatz (Beispiel: Hakenkreuzschmiererei als jugendliche Provokation) unter Verwaltungsstrafe stellt.
Anfang 2015 trat das Symbole-Gesetz in Kraft, das die Verwendung von Symbolen mehrerer – vorwiegend islamistischer – Organisationen unter Verwaltungsstrafe stellt.
Das Gesetz wurde 2019 und 2021 novelliert.
Die geltende Fassung verbietet unter anderem die Verwendung von Symbolen der türkisch-faschistischen „Grauen Wölfe“, der kroatisch-faschistischen „Ustascha“, der rechtsextremen „Identitären Bewegung Österreich“ und ihrer Tarnorganisation „Die Österreicher“.
Auf Betreiben des Mauthausen Komitees Österreich trat Anfang 2016 eine Neufassung des Verhetzungsparagraphen (§ 283 StGB) in Kraft, die zu wesentlich mehr Anklagen und Verurteilungen führte.
Ebenfalls auf Betreiben des Mauthausen Komitees Österreich begann die Justiz in dieser Zeit auch, Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte im Hinblick auf das Verbotsgesetz weiterzubilden.
Heute kann bilanziert werden, dass die antifaschistischen Normen der österreichischen Rechtsordnung nicht mehr in Gefahr sind, totes Recht zu werden.
Sie tragen vielmehr wesentlich zur Bekämpfung neonazistischer Strömungen bei.
Allerdings sind die Verurteilungszahlen noch immer viel zu niedrig.
Nicht selten kommt es zu unbegründeten Einstellungen von Verfahren, fallweise auch zu offenkundigen Fehlurteilen durch die Geschworenen.
Das Mauthausen Komitee Österreich fordert außerdem, NS-Wiederbetätigung auch dann zu verfolgen, wenn die Tathandlung im Ausland gesetzt wird, aber ein klarer Österreich-Bezug besteht (etwa durch die Staatsbürgerschaft des Täters).
Von diesen Themen abgesehen ist strittig, ob die sogenannte Teilleugnung des Holocaust (Beispiel: „Vergasungen hat es gegeben, aber nicht in Mauthausen!“) und die sogenannte Kriegsschuldlüge (Beispiel; „Nicht Hitler wollte den Weltkrieg, sondern England und Frankreich!“) strafbar sind.
2021 hat die derzeitige Justizministerin Alma Zadić (Grüne) wegen des bestehenden Reformbedarfs eine Arbeitsgruppe von Expertinnen und Experten mit der Evaluierung des Verbotsgesetzes beauftragt.
Diese Arbeitsgruppe ist mehrfach zusammengetreten, zuletzt im Juni 2022.
Inzwischen liegt ein erster Entwurf der geplanten Novelle des Verbotsgesetzes vor.
Die Justizministerin verhandelt mit der SPÖ über deren Zustimmung, weil ein Verfassungsgesetz nur mit parlamentarischer Zweidrittel-Mehrheit geändert werden kann.
Quelle: Dr. Robert Eiter
OÖ. NETZWERK GEGEN RASSISMUS UND RECHTSEXTREMISMUS
Antifa-Netzwerk-Info Nr. 838: Verbotsgesetz neu: Erster Entwurf!
Antifaschistische Rechtsmaterien in Österreich:
Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945
(„Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs“) >>> www.ris.bka.gv.at
Verbotsgesetz 1947, in der Fassung von 1992: relevant v.a. §§ 1, 3, 3a, 3b, 3d, 3g und 3h
Staatsvertrag von Wien vom 15. Mai 1955: Artikel 4, 7 und 9
Abzeichengesetz 1960, in der Fassung von 2012
Verhetzungsparagraph: § 283 Strafgesetzbuch (StGB), in der Fassung von 2016
EGVG: Artikel III Abs. 1 Z4, seit 1986
Symbole-Gesetz, in der Fassung von 2021: Graue Wölfe, Ustascha, Identitäre, Die Österreicher …
Presse:
Der Standard: Ärger und Zuspruch bei Reform des NS-Verbotsgesetzes
zuletzt bearbeitet: 11.03.2023 / ST